Gegenwart (Woche 32)

petranovskaja gegenwart

Gegen was ist die Gegenwart? Oder was wart sie?

Ich liebe die deutsche Sprache, und das Wort “Gegenwart” reizt mich immer wieder. Es ist wie eine kleine Schatztruhe voll mit möglichen Überraschungen. In der Gegenwart passiert stets so viel, und die letzte Woche zusammenzufassen hat dieses Mal wieder etwas länger gedauert.

Teresa Werner

Das Kennenlernen von neuen Menschen ist für mich immer wieder wie Weihnachten, und diese Woche hat so viele Weihnachtsgeschenke für mich gebracht! Das eine davon möchte ich mit euch teilen, und dieses Geschenk ist Teresa. Sie spricht am laufenden Band faszinierende Sätze, und mein Kopf schafft es einfach nicht, da gleichzeitig zuzuhören und mitzudenken. Das eine Zitat, das mich sofort zum Ausflippen gebracht hat, war die Abwandlung des Kant’schen:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

E. Kant

Aufklärung spielt in der Coronazeit eine wichtige Rolle bei uns, und jawohl, diese Zeit bringt viele mündige Menschen hervor. Die Teresa hat ihre eigene Version geschaffen, und diese geht so:

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Zitat von Teresa Werner

Bumm! Das hat gesessen. Das hat mich mitten im Herzen getroffen, tue ich doch gefühlt seit Jahrzehnten nichts anderes, als genau dies. Nur ohne so viel Klarheit. Mit einer anderen Klarheit. Und ich spüre: ich wünsche mir etwas anderes.

Verwirrung und Erschöpfung

Ich fühle und ich nehme um mich herum zwei Dinge wahr: Verwirrung und Erschöpfung. Wir sind Corona-müde. Viele, die wie ich, in ihrer Selbständigkeit Gott und die Welt auf den Kopf gestellt habe, ihr Business neu erfunden haben, tausend neue Dinge gelernt haben, mit den Kunden in völlig neuen Diskussionen gesteckt haben, sind erschöpft. Müde. Haben leere Batterien. Manche fangen sogar an, öffentlich darüber zu sprechen, und das trifft.

Ich spüre meine eigene Müdigkeit und verschreibe mir ein ruhiges Wochenende. Alleine. Viel frische Luft, Hamburger Nebel und Hamburger Sonne, viel Schlaf, gutes Essen und gute Bücher … nein, keine Bücher. Filme, Telefonate mit Freunden, lange nicht mehr gehörte Platten.

Weniger müssen. Mehr sein. Spürend as da ist. In der Gegenwart verweilen. Die Gegenwart wahrnehmen. Der Gegenwart etwas beisteuern, wahrgeben nennt das die Birgit Dierker. Raus aus Resignation und Leere, das sind Bewertungen der Gegenwart. Rein ins zuhören, sein, atmen und durch rein ins wahr werden. Werden, wer wir sind. Raus aus der selbstverschuldeten Menschlichkeit.

Dave Snowden

Während ich mit diesen mantraartigen Gedanken meinen Tee in die Tasse gieße und nichtsahnend im Computer rumklicke, spült der Ozean aus allen möglichen Informationen mir mit der nächsten Welle vier Aussagen von Dave Snowden vor die Füße. Sie sind so bitterböse wie zuckersüß. Wunderbarst treffend und gleichzeitig eine große Bühne für Diskussionen und Auseinandersetzungen. Hier eine Übersetzung:

Wenn du wirklich etwas verändern willst, dann hör auf, Listen mit idealisierten Qualitäten zu erstellen, wie die Dinge sein sollten – sie werden immer als belanglose Plattitüden enden – konzentriere dich auf das Verstehen und kritisches Agieren in der Gegenwart, um die Dinge in eine bessere Richtung zu lenken.

Ein guter Orientierungssinn und ein Verständnis dafür, was möglich ist und was Optionen offen hält, ist wichtiger als irgendeine messianische Zukunftsvision; letzteres, was auch immer die Absicht sein mag, ist nur eine Ausrede dafür, sich nicht mit der gegenwärtigen Realität auseinanderzusetzen.

Und höre endlich mit dem paternalistischen Versuch auf, zu definieren, wie Menschen denken und eine XYZ-Kultur entwickeln, und konzentriere dich stattdessen darauf, Verbindungen zu schaffen und zu verändern und Menschen in kleine Aktionen im Hier und Jetzt zu verwickeln. Bewusstseinswandel hat den Beigeschmack von Belehrung.

Oh, und es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Verständnis, dass alles miteinander verbunden ist, dass kleine Dinge bedeutende Veränderungen und unbeabsichtigte Folgen katalysieren können auf der einen Seite und der Illusion, dass man das System als Ganzes sehen kann oder sollte.

Dave Snowden, übersetzt

Ich habe ein weiteres Bumm! in meinem Schädel und bin dankbar. Ich denke nach. Ich höre meinen Gedanken zu. Ich sehe innerlich eine Medaille, die sich ständig dreht und mir in jeder Sekunde beide Seiten zeigt.

  • Laut und leise
  • Neu und alt
  • Bunt und grau
  • Müde und begeistert
  • Zerstörerisch und schöpferisch

Es ist kein “entweder-oder” in diesem Hier-und-Jetzt möglich. Sobald ich mich für eine Seite dieser Medaille entscheide, sehe ich schon wieder die andere. Sehe ich das Gute in der Situation, fordert etwas Trauriges meine Aufmerksamkeit. Entschiede ich mich für müde und traurig sein, weckt etwas mein Interesse und lockt mich in die Ekstase der Schöpfung.

Der Krisenbegleiter

Denn diese Woche haben wir den Krisenbegleiter in den Druck geschickt, ein zweites Selbstcoaching-Buch von Birgit Dierker und mir. Einen Begleiter in den Zeiten der Verzweiflung, des Nicht-mehr-weiter-wissens, der Müdigkeit und der Leere.

Ein Buch, das Snowden und Werner vereinend, in kleinen Aktionen im Hier-und-Jetzt jedem von uns zurück zu unserer Menschlichkeit hilft. Ein außen grünes, innen mit 41 farbigen Seiten buntes Ergebnis unserer Kreativität und Schreibkraft, mitten in dem Corona-Sommer als Idee entstanden und nun umgesetzt.

Jetzt erst recht!

Mein rebellisches Ich will nicht Krise schieben oder bekämpfen, ich will leben, mit einem großen Lächeln und einem weit reichenden Leuchten. Ich ziehe mich hübsch an, gehe in die Maske, tanze zu meinem Lieblingslied und gehe raus. Ich spaziere in der bunten Herbstluft, ich genieße den Cappuccino bei Jacqueline (der es leider immer noch sauschlecht geht wegen Corona) und schiebe mit einem lauten Rauschen die Blätter durch die fast menschenleeren Straßen.

Wie viele verschiedene Gefühle passen eigentlich gleichzeitig in ein Gemüt?

Später gehe ich am Strand spazieren und genieße solche und andere Fragen. Die Wellen, unermüdlich den Sand leckend, erinnern mich daran, dass Aufgeben keine Option ist. Die Stimmen der Zitate in meinem Kopf erinnern mich daran, dass ich zu keinem Zeitpunkt – niemals – alleine bin oder war, und mit dieser Gewissheit lässt sich die große Unsicherheit dieser Zeit ein Stückchen besser aushalten.

Oder?

petranovskaja Unterschrift signatur

Mein Corona-Tagebuch

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