Es ist Woche 9 seit Corona, und ich habe das Gefühl einer Störung. Einer Störung in unserem ganzen sonst so gut funktionierendem System.
Es ist die Woche, in der sehr viele Büro-Mitarbeiter zurück in die Büros geordert wurden. Es ist die Woche, in der es in Hamburg wieder Staus auf der Straße gibt. Als wäre nichts gewesen.
Gleichzeitig ist mir ganz schlecht vor all den Impulsen und Möglichkeiten, die in meiner virtuellen Blase auftauchen. Kurse, Meetups, Dialoge, sich gemeinsam betrinken – alles online, versteht sich.
Waren all diese Reize auch vorher schon da?
Meine Baustelle liefert mir eine perfekte physische Bestätigung: Ein Rohr, das in der Wand ist, hat Leck, und bei meiner Nachbarin unten werden die Schränke nass.
Eine Störung halt. Beim letzten Mal wurde genau das Rohr schnell geflickt und die Wand wieder zugemacht. Jetzt wird diese schwer zugängliche Stelle uns dazu zwingen, die einzige Ecke der Wohnung anzugehen, die wir lassen wollten: die Küche.
Wusa. Wer “Bad Boys” geschaut hat: Wusa.
Bilder der Woche
Hand-Werk
Ich liebe deutsche Sprache. Immer und immer wieder erzählt sie mir so tolle Geschichten.
Wir haben Hände, die tolle Werke vollbringen können. Jeder von uns hat sein Handwerk. Der eine macht etwas physisches, der andere erzeugt Werke durch das Tippen auf der Tastatur. Haben wir eine gute, gesunde Beziehung zu dem, was wir tun?
Unser Bauleiter ist da, vom Beruf Mauerer. Wir sitzen zwischen den Schutt und Bruch-Häufchen auf der Terrasse, die wir gerade aufgerissen haben und reden in der Abendsonne. Und dann spricht er von seinen Händen. Er regt sich darüber auf, dass es Mauerer gibt, die Wände mit Handschuhen bauen, weil sie dann ihre Finger weniger verletze würden. Wie soll denn das gut werden, was sie bauen? Sie spüren nicht, was sie tun! Sie fühlen die Schnur nicht, die die Gerade markiert, und so entsteht Pfusch.
Ich bin auch ein Handwerker. Ich komme zu Unternehmen und Teams und helfe ihnen, etwas ab- oder aufzubauen. Und dann gehe ich wieder. Und es ist wichtig, dass meine Arbeitsergebnisse wirkungsvoll und dauerhaft sind.
Es fällt mir auf, wie sorgsam er mit seinen Händen umgeht. Wie er sie jedes Mal liebevoll wäscht und anschaut. Ein Handwerker! Noch nie war dieses Wort für mich so unterschätzt.
Was mich zum letzten Thema meiner Wochenreflexion bringt:
Fragilität
Letzte Woche schrieb ich darüber, wie fragil wir sind. Über das empfundene Klirren in der Luft. Über das Zerbrechen und kaputt gehen. Meine liebe Freundin Birgit hat das wunderbar mitgefühlt und weiter entwickelt, und es ist ein Wort entstanden:
FR(agment)AGIL
Zwischen diesen Worten und Gedanken, mitten im Abbruch und mit der Störung der Wasserleitung, da denke ich viel darüber nach, wie wir wirkungsvoll bleiben oder noch wirkungsvoller werden.
Bestimmt nicht, indem wir einfach zurück in die Büros gehen und alles so weiter machen wie bisher.
Vielleicht komme ich irgendwann auch wieder zum Thema Antifragil, welches mich seit vielen Jahren – dank des Buches von Nicolas Taleb – so begeistert. Und ein Gedanke zum Schluss:
Auch all diejenigen, die jetzt Gewinner zu sein scheinen, weil sie alles digitalisiert haben, sind – aus der Sicht der Antifragilität – nicht automatisch sicher. Ich meine, selbst Unternehmen wie Uber und Airbnb kündigen jetzt massenhaft Mitarbeiter. Stellt euch einfach nur vor, der nächste Virus ist ein Computervirus und wir sind angewiesen auf … uns selbst!
Was dann?
Eine gute Frage für Woche 10, finde ich. Was meinst du?
Mein Corona Online-Tagebuch: Woche 1 (Stammhirn) | Woche 2 (umlernen) | Woche 3 (Raupen optimieren) | Woche 4 (emotional) | Woche 5 (nachdenklich) | Woche 6 (baff) | Woche 7 (Abbruch) | Woche 8 (fragil)
Hallo Nadja,
danke für den Link zum Thema Antifragilität.
Bei dem Computervirus bin ich ganz bei dir, sollte sich so einer zur Pandemie entwickeln, dürfen wir wieder vieles neu denken und lernen.
Und die Möglichkeit, das es soweit kommt, sehe ich durchaus als gegeben.
Immerhin können wir einiges tun, die Gefahr zumindest einzudämmen:
– Diversität: wenn ein Virus auf viele gleichartige Systeme trifft, welche er befallen kann, steigt die Möglichkeit der Verbreitung exponentiell.
– Segmentierung bzw. die Möglichkeit von Abschottung betroffener Bereiche. Das hat sich schon seit vielen Jahren, zum Beispiel beim Feuerschutz, bewährt. Im Moment sind wir aber eher dabei, gnadenlos alles miteinander zu vernetzen, teilweise ohne zu fragen, ob es wirklich Sinn macht und welche Nebenwirkungen auftreten können.
– Bewusstsein für Gefahren und angepasstes Handeln. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, wir tun uns in der Praxis damit aber gern mal schwer. Und solange Hersteller ihren Kunden Lösungen als 100% sicher verkaufen ist das natürlich auch nicht förderlich, um ein verantwortungsvolles Handeln zu erreichen.
– Vielleicht sogar akzeptieren, dass wir nicht in der Lage sind, alles zu verstehen, zu beherrschen und zu kontrollieren. Komplexe Systeme neigen nun mal zu komplexem Verhalten und das Leben (das Universum und der ganze Rest) verhalten sich oft nicht so, wie wir uns das vorstellen.
Der Liste kann man sicher noch viele weitere Punkte hinzufügen.
Interessant ist natürlich mal wieder zu erfahren, was es bedeuten würde, wieder auf uns selbst angewiesen zu sein.
Mal ein paar Tage Digital Detox ist da sicher keine schlechte Idee und unter Umständen eine aufschlussreiche Erfahrung.
Viele Grüße
Jörg
Hallo Jörg,
wie schön von dir zu lesen und zu nicken bei so vielen Punkten. Ja, Diversität, Bewusstsein und Akzeptieren des Komplexen helfen uns hoffentlich nicht nur beim (Computer)Virus, sondern auch in so vielen anderen Zukunft-Situationen! Und, seufz und nochmal nicken, digitales Detox und einfach mal in den Wald gehen, das ist oft so heilend! Uns es braucht weder eine App noch ein Passwort…
Viele Grüße zurück, Nadja