Singen, falsch und richtig

petranovskaja salutogenese singen

Mein Bruder kann überhaupt nicht singen. Das ist, was ich normalerweise über die akustischen Signale sagen würde, die Alexej von sich gibt, wenn wir unsere Geschwister-Zeit haben.

Genauer betrachtet, ist dieser Satz irreführend. Jeder kann singen, und es ist wie “Jeder kann malen” oder “Jeder kann tanzen”. Unser Verstand wertet alles, was er erlebt und passt es dem erlernten Richtigskeitskodex an. Kann mein Bruder also doch singen?

Singen und die Gesundheit

Wer musiziert und singt, aktiviert im Gehirn über die Ausschüttung von Neurotransmittern Prozesse, die für die Gesundheit, das Lernen und die Hirnentwicklung im Allgemeinen enorm wichtig sind. Spreche ich so einen Satz in der Unterhaltung aus, fangen meine Zuhörer sofort an, mit den Köpfen zu nicken. Lade ich sie im Zuge dessen ein, mit mir zusammen ein Lied zu singen, wackeln die Köpfe von links nach rechts, dafür wäre jetzt nicht der richtige Moment.

Drückt’s dich wo, sing dich froh!

Volksmund

Wann ist es denn ein richtiger Moment, Dopamin auszuschütten, der für die gute Laune und für die Konzentration zuständig ist? Wann brauchen wir Endorphine, welche für Angstfreiheit und Beruhigung sorgen?

Aus meiner Sicht mehrmals am Tag, vor allem bei der Arbeit!

Wer singt, verscheucht sein Unglück.

Spanisches Sprichwort

Die Vernunft kann nur reden. Es ist die Liebe, die singt.

Joseph de Maistre

Singen stabilisiert die Herzfrequenz, was gut für unser Herz-Kreislauf-System ist. Singen tut den Lungen gut, was den Körper mit Sauerstoff versorgt, was wiederum sich positiv auf Konzentration und Ausdauer auswirkt.

Versuchen Sie mal mit einem vollgefüllten Brustkorb und mit erhobenem Haupt – was Sie ja alles machen müssen beim Singen – versuchen Sie da mal Angst zu haben. Das geht gar nicht.

Gerald Hüther

Singen stärkt übrigens auch die Abwehrkräfte. Wäre in der Corona-Zeit dann gemeinsames Singen nicht genau so nützlich wie das Tragen von Masken und der Abstand? Ich weiß, das eine klingt mehr bedeutsam, aber warum machen wir immer nur das eine?

Ich werde mich also nie wieder lustig machen über meinen Bruder. Vielmehr nehme ich mir ein Beispiel daran, immer wieder etwas vor mir hin zu brummen, wenn ich müde oder verstimmt bin. Zu der Verstimmung ein anderes Mal etwas mehr. Lustiges Wortspiel übrigens ;-)

Eine Anekdote am Rande

In meiner russischen oder viel mehr sowjetischen Schule empfingen wir zwecks Kulturaustausch regelmäßig Schulklassen aus damals noch DDR. Ein fester Teil des Programms war es, dass wir ihnen unsere frohen sozialistischen Lieder sangen (singen – sang – gesungen: wer hat diese Grammatik erfunden?).

Singen im Chor war nicht nur Teil des Musikunterrichts, auch in den Ferien wurden wir – landesweit, in ganz Sowjetunion – überall in Gruppen versammelt und haben (meist begleitet von einem Akkordeonspieler – weil Klaviere nun nicht überall mitzunehmen sind) gemeinsam gesungen. Volkslieder, Lieder über tolle Menschen und natürlich über unser Land.

Bei manchen Völkern wird der Reichtum eines Menschen daran bemessen, wieviele Lieder er im Herzen trägt.

Unbekannter Autor

Nun kamen kurz nach Perestroika zum ersten Mal Schüler “aus dem Westen” zu uns. Und wieder haben wir ihnen unsere Lieder vorgetragen und danach gefragt, ob sie uns denn nicht auch etwas singen könnten.

Was danach kam, begleitete mich jahrelang. Denn jahrelang dachte ich, dass “Eisgekühlter Bommerlunder” ein deutsches Volkslied sei, und das belegte Brote mit Schinken und Ei eine besondere Bedeutung in der westdeutschen Kultur haben müssen.

Bis ich selbst nach Hamburg kam und aufgeklärt wurde, dass es hier gar nicht so üblich ist, etwas gemeinsam zu singen. Und dass es für eine Gruppe von Deutschen sehr schwer ist, ein Lied zu finden, zu dem alle den Text kennen.

Einer kann reden und sieben können singen.

Volksmund

So frage ich mich: was ist richtig und falsch am Singen? Warum singt man hier in Deutschland so wenig, und wenn, dann kaum gemeinsam? Warum singen junge Leute bei den Parties englischsprachige Lieder lauter als etwas Deutsches?

Sorry für die vielen Fragen.

Lasst uns singen.

  • Allein und zusammen.
  • Noten treffend (“richtig”) oder aus der Seele heraus.
  • In jeder Sprache, die wir wollen.
  • Unter der Dusche.
  • Im Auto.
  • In einem Zoom-Call.
  • Für unsere Kinder und unsere Großeltern.

Für uns und unsere Gesundheit.

petranovskaja Unterschrift signatur

Das “Gesünder in die Zukunft” Tagebuch

  1. Aufbruch, gesünder in die Zukunft
  2. Denke nicht an den rosa Elefanten
  3. Die Wellen des Lebens

PS: Eine zusätzliche Inspiration aus 2014 mit einem Foto meines Bruders findest du hier.

2 Comments

  1. Hallo Nadja,

    ich glaube, das hat tatsächlich etwas mit unserer Geschichte zu tun. Viele Volkslieder waren zu patriotisch, als dass sie weiter gesungen werden konnten. Es gab Diskussionen über Weihnachtslieder, weil darin der Zinnsoldat vorkam (der Text wurde dann tatsächlich geändert), …

    Und englische Lieder? Die Amerikaner brachten eine unbeschwerte Lebensweise mit, die in den Jahren nach dem Krieg gut gebraucht werden konnte – und das blieb dann bestehen. Phasenweise sind dann aber auch die deutschen Schlager wieder total in, zur Zeit haben wir ja wieder relativ viele deutsche Liedermacher.

    Ob wir je wieder zurück zu den deutschen Volksliedern kommen, ich wage es zu bezweifeln.

    Reply
    • Danke dir liebe Petra, dass du dir die Zeit genommen hast, auf meine Fragen zu antworten. Wir werden sehen, was die Zeit mit sich bringt!

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