Warum es gut ist, ein Narr zu sein

In Russland gibt es ein Sprichwort, das heißt: Lebe 100 Jahre, lerne 100 Jahre, stirbst als Narr. Meine Mutter sagte es immer dann auf, wenn sie etwas Neues für sich entdeckte und sich darüber freute.

In der heutigen Zeit, mit so unfassbar viel frei verfügbarem Wissen um uns herum, fällt es schon mal schwer, sich selbst und anderen zu sagen, man lerne noch. Xing und LinkedIn Profile und so viele Büroräume werden mit Zertifikaten geschmückt. Dies dient als Nachweis, man hätte was drauf, man sei durch die harte Schule des (auswendig) Lernens durch.

(Kurzer Exkurs: Früher war es in einem Menschenleben normal, so linear zu denken. Heutiges Berufsleben eines Menschen sieht etwas anderes aus:)

petranovskaja drei felder des lebens

Warum es gut ist, ein Narr zu sein

Fassen wir zusammen, worüber sich die Welt einig zu sein scheint:

1. Dass die Welt sich ändert. Wir sprechen von New Work, von VUCA, von Dynaxity. Taylor-Wanne, Disruption, Ambidextrie – all diese Wörter klingen wie eine Diagnose für eine seltsame neue Krankheit, unter der unsere Welt leidet.

petranovskaja dynaxity modell

2. Dass man die Probleme nicht mit gleichen Mitteln lösen kann wie die, mit denen man diese Probleme auf die Welt gebracht hat. Obwohl der Spruch dazu schon etwas älter ist, zitieren wir den guten Alfred Einstein in diesen Tagen öfter denn je.

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. –Albert Einstein

3. Dass Kompliziertes und Komplexes auf verschiedene Art und Weise behandelt werden müssen. Nicht erst mit dem Anmarsch der Agilität, auch vorher schon – und spätestens mit dem allgemein Bekanntwerden des Cynefin Modells – haben wir uns darauf geeinigt, dass Best Praxis (früher das gängigste Mittel zum Lösen der meisten Probleme und die Wunderwaffe der Unternehmensberater) im komplexen Umfeld wenig wirksam ist. Lernende Organisation (das entsprechende Buch dazu schrieb Peter Senge bereits 1990) wird heute zwar nicht so genannt, aber mit Stand Up Meetings und Retrospektiven so geführt. Kollegiale Beratung (eine in den 80ern entwickelte Methode) wird heute Mastermind oder WOL Circle genannt. Die Popularität dieser co-kreativen Formate zeugt vom Verständnis, dass man komplexe Probleme nicht allein lösen kann, sondern nur gemeinsam mit anderen Menschen, die unter Umständen (und manchmal notwendigerweise) ganz anders denken.

petranovskaja cynefin

4. Dass wir neue Kompetenzen brauchen und dass viele der heutigen Berufe in Zukunft obsolet werden. Teilweise geben wir Standard-Abläufe an Roboter ab, teilweise entstehen Berufsbilder, für die es noch keinen Bachelor-Lehrgang gibt. Immer mehr Menschen sind erfolgreich im Business ohne je in einer Fach- oder Hochschule gewesen zu sein. Wir lernen von Bloggern und Influencern, wir lernen in MOOCs (Massive Open Online Course) und auf YouTube. Und währen die Führungskräfte der „alten Schule“ das Führen der Generation Y & Z als ihre größte Herausforderung beschreiben, wuseln diese Generationen sich durch die sich rasch verändernde Business-Welt und bauen sich ihre eigene auf.

Was nun?

Wenn du, werter Leser, ein Mensch um oder über 40 bist, dann ist mein herzlicher Appel an dich: sei ein Narr! Öffne dich der Möglichkeit, noch nichts oder nicht genug zu wissen. Nimm die Haltung an, dass die Welt voller Wissen ist, welches dir zur Verfügung steht. Sei im Vertrauen, dass jedes deiner Probleme dir eine Gelegenheit zum Lernen gibt. Öffne deine Filter, probiere neues aus, mache Dinge neu. Ein Anfang könnte sein, Zähne mit linker Hand zu putzen, verschiedenfarbige Socken anzuziehen oder im Restaurant etwas anderes zu bestellen als sonst.

Lebenslang lernfähig

Gerald Hüther nennt die Fähigkeit unseres Gehirns, lebenslang Neues zu lernen „Plastizität des Gehirns“. Neue synaptische Verbindungen entstehen zu lassen, das geht am Besten, wenn man gemeinsam mit einer Gruppe neue Erfahrungen macht. Das Gehirn sei laut Hüther im Laufe der Evolution nicht zum Auswendiglernen optimiert worden, sondern zum Lösen von immer neuen Problemen. Es sei keine Rechenmaschine, sondern ein “soziales Organ”. Folgen wir dieser Erkenntnis der Hirnforscher und Psychologen, steht dem lebenslangen Lernen von neuen Sprachen, Methoden, Lösungswegen nichts im Wege.

petranovskaja zukunft

Fazit

Verbindet man die Russische Volksweisheit „Lebe 100 Jahre, lerne 100 Jahre, stirbst als Narr“ mit den Erkenntnissen der modernsten Hirnforschung, besteht große Hoffnung, dass wir –trotz aktueller leichten Überforderung – die neuen Probleme meistern werden. Zwei Dinge brauchen wir dafür:

  • wir öffnen uns einander, hören einander aufmerksam zu und freuen uns an den Differenzen in Meinungen und Weltansichten
  • wir nehmen eine Haltung an, die es gut findet, (egal im welchen Alter und mit wie vielen Zertifikaten) noch sehr vieles lernen können

Stay foolish!

petranovskaja Unterschrift signatur

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