Klein und groß

petranovskaja klein und groß

Als ich noch klein war, und zwar von außen betrachtet, war mein Leben – ebenfalls von außen betrachtet – alles andere als rosig und kummerfrei. Eine lange Liste von Dingen, die heute im Leben selbstverständlich sind, war in meinem Leben nicht existent. Doch wie bei dem berühmten Spruch mit der Hummel, die keine Ahnung hat, dass das Verhältnis der Flügelfläche unpassend ist, um fliegen zu können, hat mich das nicht gekümmert. Als ich noch kein war, war mein Leben für mich perfekt.

Als ich dann größer wurde – von außen betrachtet – kam die Verantwortung für mein eigenes Leben auf die Liste der Dinge, die ich plötzlich zu akzeptieren hatte. Der äußere Chaos um mich herum – es war 1989, und die ganze Welt hatte viel wichtigere Probleme, als meine Pubertät – sorgte dafür, dass ich in einer Art Wurmloch unterwegs war. Meine Eltern ließen sich scheiden, die Sowjetunion brach zusammen, die neue Freiheit überforderte uns. Und so eines Abends, einem Live Konzert von Paul McCartney im Radio lauschend, wurde ich wieder klein – von innen betrachtet.

Dazu muss man wissen, dass das Lauschen eines verbotenen ausländischen Musikers bis zu einem gewissen Zeitraum völlig unmöglich gewesen ist – für Normalsterbliche. Und jene, die es dennoch wagten, verbotene Musik zu hören oder verbotene Bücher zu lesen, verschwanden. Diese klare Aufteilung in gut und böse, dunkle und helle Seite der Macht, machte die Welt begreiflich und auf ihre Art und Weise ordentlich.

Als ich klein war – von innen betrachtet – hat alles in der Welt mich entweder verunsichert oder stumm gemacht. Ich habe aufgehört, Gedichte zu schreiben und Lieder zu singen. Die heute noch in der Ecke stehende Gitarre erinnert mich an die Zeit, wo das passiert ist. Mein Leben – von innen betrachtet – war alles andere als rosig und kummerfrei. Vieles lief auf Autopilot, und ich sagte einfach ja zu Dingen, die vor mir auf dem Weg standen.

Es folgten viele Jahre meines Lebens, die von außen oder von innen betrachtet nicht im Einklang waren. Was dem einen furchtbar, war mir lieb. Was dem einen ein Traum, war mir eine Qual. Und viele Jahre habe ich daran geglaubt, dass das normal sei. Dass diese Dissonanz zum Leben dazu gehört.

Bis ich groß wurde – von innen betrachtet.

Als ich dann wirklich groß wurde und die Verantwortung für mein Leben akzeptiert habe, statt sie zu fürchten, dann wurde das Leben plötzlich rund und sprudelnd wie ein Bach. Es kamen Menschen in mein Leben, mit denen ich einig darüber sein konnte, was wichtig und was schön ist. Es war mir plötzlich möglich, auch nein zu Dingen zu sagen, die in meinem Weg standen und mir nicht passten.

Willkommen, mein Tag! Ich erwähle dich mich allem, was du bringst.

Tagebuch nach einem Spaziergang im Schnee.
7.1.2021

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