Ob Vögel Flugunterricht brauchen? Heute setze ich mich mit meinem eigenen Beruf kritisch auseinander. Das passiert weder aus Frust noch aus Neid, vielmehr aus dem Wunsch, unsere Arbeitswelt um ein paar Aspekte reicher zu machen und das Gestalten der Zukunft mit mehr Freude und Elan anzugehen. Lesedauer: ca. 5 Minuten.
Fast jede Woche spreche ich als Beraterin mit mittleren und großen Unternehmen über das Thema “New Work”. Meine Fragen dazu:
- Was bedeutet der Begriff “New Work”?
- Was ist zu diesem Thema bereits in der Umsetzung? (aus der Phase des Redens raus)
Die Antworten sind verschieden. Frau X wäre auf einer Konferenz gewesen. Es seien Berater im Haus, die etwas untersuchen und ein Konzept vorstellen wollen. Man wolle noch nicht in die Umsetzung gehen, bevor man sich sicher sei, was genau man tun sollte. Und ob ich ein Buch oder so etwas empfehlen könnte.
Prolog: Flugunterricht für Vögel
Stell dir vor, eine Gruppe smarter, gut aussehender Berater (teilweise in Anzügen, teilweise eher Berlinerisch leger und mit einem langen gepflegten Bart ausgestattet) von einem oder mehreren namhaften Unternehmen bringt einem Schwarm Gänse das Fliegen bei. Dazu haben die Berater vorher die Vögel untersucht und einen Konzept aufgestellt. In der sehr langen PowerPoint Präsentation mit sehr viel Text (in Schriftgröße 10 und kleiner) findet man neben den Erkenntnissen der Analyse-Phase auch eine ausgiebige Anleitung dazu, wie man abhebt, fliegt, in der Luft navigiert und wieder landet. Nachdem die Präsentation den schnatternden Vögeln vorgetragen wurde, heben diese in die Luft und fliegen davon. Die Berater schreiben die Rechnung.
Das Umkehren
Ich lese hundert Mal so viel wie ich schreibe. Daher weiß ich mit Sicherheit nicht mehr genau, aus welchem Buch oder Blog ich die Weisheit bezogen habe, dass es in der VUCA Zeit nicht mehr darum geht, Konzepte zu schreiben und umzusetzen, sondern viel mehr darum, Steine aus dem Weg zu nehmen. Welchen Weg ich meine?
Ich bin mir sicher, dass Vögel selbst wissen, wie man fliegt. Und ich bin fest überzeugt, dass – gerade weil wir so viel über VUCA sprechen – die neue Realität nicht auf alte Art und Weise geschaffen werden kann. Während wir also an sehr vielen Baustellen in der Wirtschaft immer noch versuchen, uns dem Thema “New Work” auf alte, uns vertraute Art und Weise zu nähern, frisst sich das Neue unaufhaltsam durch unsere Welt.
Das Neue aus New Work kann man nicht aufhalten. Nicht planen. Nicht in Prozesshandbücher packen.
Wir können, wir dürfen dem Neuen vertrauen und ihm die Steine aus dem Weg räumen. Dafür sorgen, dass es sich dort entfaltet, wo wir es brauchen. Zum Beispiel in den Abteilungen, die vom Fachkräftemangel betroffen sind (oh ja, es gibt ihn doch, diesen Mangel!). Zum Beispiel in den zahlreichen Führungskräfte-Programmen, die (viel zu oft) immer noch als PowerPoint Schlacht ablaufen. Oder im Mittelstand – weil diese Unternehmen wendiger und an sich agiler sind als Großkonzerne und so gutes stabiles Mittelfeld der Zukunft sind.
Der Kern
Giso Weyand, ein Mensch, den ich sehr schätze, hat in seinem wunderbaren Buch eine Aufgabe, die lautet: Stell eine Liste der Dinge zusammen, die dich (als Berater) in den letzten Monaten geärgert haben. Als ich die Übung machte, dachte ich nicht viel über die Folgen nach.
Doch jetzt weiß ich: ich ärgere mich seit einer längeren Zeit darüber, wie viel über das Thema New Work gesprochen, geschrieben und diskutiert wird – und wie wenig in die Tat umgesetzt. Das Festhalten an der alten Überzeugung, auch dieses hochkomplexe Thema könnte man mit Hilfe von linear nach vorne schauenden Konzepten lösen, macht mich traurig. Die (zum Teil sehr erfolgreiche) Versuche, aus der Verwirrung der Unternehmen Geld zu machen – mit Konferenzen (wo man den Vögeln das Fliegen beibringt in Form von Vorträgen), mit Büchern (wo man berichtet, wie Vögel fliegen), mit schlauen neuen Berater-Titeln (New Work Evangelist oder Senior New Work Enabler).
Verständlich, dass dieses Vorgehen vorerst mehr Verwirrung schafft, als Klarheit. Das führt selbstverständlich dazu, dass noch mehr Flugunterricht-Stunden verschrieben werden.
Der Dunning-Kruger-Effekt
Meine Aufregung wurde diese Woche kanalisiert. Ein Teilnehmer meiner Führungs-Werkstatt hat mich auf den Dunning-Kruger-Effekt hingewiesen. Dieser Effekt, von zwei Psychologen entdeckt, beschreibt die Neigung inkompetenter Personen, das eigene Können zu überschätzen und den Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht zu erkennen. Gleichzeitig werden diejenigen mit echten Kompetenzen häufig mit Zweifeln an ihren Fähigkeiten geplagt.
Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist. […] Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen. – David Dunning
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Der britische Philosoph Bertrand Russell hat bereits einige Jahrzehnte davor erkannt:
Das Problem mit der Welt ist, dass die Dummen schwärmerisch sind und die Intelligenten voller Zweifel.
Wie kommen wir zur Lösung?
Das berühmte Kurzvideo mit dem Pinguin, der sagt, was zu tun ist, wenn man keine Ahnung hat, ist millionenfach geteilt und zitiert worden. Resultate? Unbekannt.
Gern zitiere ich den Einstein, der sagte, dass man Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen kann, durch die diese entstanden sind. Wenn wir uns also im postindustriellen Zeitalter einen Weg in das New Work suchen, wäre mein absolut größter, laut auszusprechender Appel:
Lasst es uns tun!
- Tun im Sinne von Kindern, die spielerisch lernen, wie etwas geht
- Tun im Sinne der Agilität: Experimentieren, Prototypisieren, Neuland entdecken (New Work ist doch Neuland, oder?)
- Tun im Sinne eines mutigen Unternehmertums
- Tun im Sinne von Corporate Rebellen
- (Liste ist bestimmt nicht vollständig!)
We are largely better at doing than we are at thinking. – Nassim Taleb, Antifragile
Wer lieber analysieren und Konzepte schreiben will, bitte schön! Der von mir tief bewunderte Nassim Taleb, dem ich die Metapher mit dem Flugunterricht für Vögel geklaut habe, meint dazu:
Praktiker schreiben nicht, sie handeln. Vögel fliegen, und diejenigen, die ihnen das Fliegen beibringen wollen, sind dieselben, die ihre Geschichte aufzeichnen. Man kann also unschwer erkennen, dass Geschichte tatsächlich von Losern geschrieben wird, die über viel Zeit und einen sicheren akademischen Posten verfügen. – Nassim Taleb, Antifragilität
Zeit, mich selbst an die eigene Nase zu fassen
Was tue ich hier? Ich schreibe.
Als Bild dazu: Ich schreibe in einer Flughafenlounge, während ich auf meinen Flug warte (genau, ich kann fliegen! :-)). Ich habe gerade drei Tage in einer Führungswerkstatt mit einer Gruppe von Führungskräften gearbeitet, und wir haben viel daran gearbeitet, wie man die Mitarbeiter und unternehmerische Werte in der Zeit voller Unsicherheit, Sprunghaftigkeit und Komplexität, behalten und entwickeln kann. Nein, wir haben das nicht New Work genannt. Aber wir waren uns alle einig, dass wir die Zukunft entwickeln, und dass es sich anfühlt, als wären wir auf einer portugiesischen Karavelle, die zwar Richtung Indien aufgebrochen ist, aber eventuell in Amerika landen wird.
Ich bin ein Praktiker. Ein leidenschaftlicher, recht pragmatischer Macher. Ein Umsetzer. Und – bekannter weise – jemand, der andere sehr gern in dieses Tun schubst.
Hier kommt also der große Schubs zum New Work:
Lasst uns zusammen aufbrechen! Keiner von uns weiß, wie New Work geht – dann sind wir alle in der gleichen vorteilhaften Situation. Wir können es alle zusammen entdecken, kartografieren, benennen und erkunden. Wir können von oben – aus der Flughöhe – neue Erkenntnisse über die Lage gewinnen. Wir – Berater und Unternehmen – sind auf diesem Weg in die Zukunft ein Team, eine Gruppe voller neugieriger Unternehmer. Wir können dem Neuen die Steine aus dem Weg räumen und lernen, wie wir es in das “Alte” integrieren können. Lasst uns zusammen testen, wie breit unsere Flügel sind und wie weit sie uns tragen können.
Lasst und fliegen!
#schubs
Photo by Gary Bendig on Unsplash
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