Deutschland regt sich auf

Heute Mittag stand ich an der Buttertheke bei Edeka und starrte auf die Süßrahmbutter. und dann kam eine sehr nette Dame vorbei und griff sich ein Paket, und ich fragte sie, ob sie wüßte, was der Unterschied zwischen Sauerrahm- und Süßrahmbutter sei. kaum habe ich meine Frage ausgesprochen, kam der Mann der netten Dame zu uns. klar, gibts da einen Unterschied. er würde keine andere aufs Brot schmieren. sie sei das Leckerste überhaupt.

Plötzlich stand ich in einem ganzen Pulk netter Damen, die sich alle einig waren, die Mildgesäuerte nehme man nur zum Backen, und sie unterhielten sich alle ganz aufgeregt und tauschten Rezept-Erfahrungen aus, und ich dachte mir, meine Güte, die kennen sich aber aus.

Heute Nachmittag habe ich mal wieder etwas über Thilo Sarrazin im Radio gehört. und was auf der Titelseite der Tageszeitungen gelesen. und eine hitzige Diskussion auf der Strasse miterlebt. und es war ein wenig mit der Butterdiskussion vergleichbar, nur dass wohl die wenigsten von uns das Buch bereits gelesen haben.

Meinungen bilden sich schnell. Erfahrungen brauchen länger. und es gibt genug Beweise, dass manche schnell gebildete Meinungen trotz widersprüchlicher Erfahrungen nicht geändert werden. so sind wir Menschen nun mal. ich hab dann plötzlich festgestellt, dass ich keine Meinung zu der Süßrahmbutter habe, aber eine zu dem Buch “Deutschland schafft sich ab”. folgende: ich habe keine Ahnung, ob ich das Buch gut finden würde, wenn ich das lesen würde, aber ich finde es gut, dass es das Buch gibt. da gibt es einen, der sich traut das zu sagen, was ganz viele andere denken, aber kaum schreibt er das, wird es von den Medien – wie nicht anderes zu erwarten – so verzerrt dargestellt, damit Meinungsbildung unumgänglich wird. und von den Menschen, die mit Herr Sarrazin vorher täglich verkehrt haben, hört man dann, dass man sich von ihm und seiner Meinung distanziere. und von all den anderen wird das Buch dazu genutzt, sich selbst darzustellen. ich bin da keine Ausnahme.

In Deutschland ist es – besonders in der Politik – unpopulär, eine klare Meinung zu haben. an allen Ecken und Kanten findet man Kompromissbereitschaft. lieber sich einen Zickzack-Kurs vorwerfen lassen, als unpopulär sein. lieber unbeliebt auf die Titelseite, als beliebt im Hintergrund. “Das habe ich so gar nicht gemeint”. kein Wunder, dass man auch im normalen Arbeitsalltag kaum versteht, was der andere möchte. und dass Kommunikations-Kurse gar nicht in der Lage wären, dieses zu lösen.

Pfui, jetzt habe ich tatsächlich was zur Politik gesagt. dabei bin ich gedanklich immer noch mit der Butterfrage beschäftigt.

Nadja Petranovskaja Signatur

4 Comments

  1. Naja. Prinzipiell stimme ich dir zu
    … aber bei Sarrazin gibt es mehr als genug Zitate aus dem Buch (man könnte auch behaupten: viel zu viele – und in viel zu vielen Medien) die so übel und faschistoid sind, dass ich den Restdreck nicht auch noch in Gänze lesen muss.
    Nix gegen eine eigene Meinung. Muss auch nicht die Meine sein. Aber jeden Versuch dieses Rassengefasel auch nur ansatzweise über “ist vielleicht nicht meine Meinung, aber endlich hat jemand mal eine” zu legitimieren finde ich Kacke.

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  2. hallo Mart,
    da ich das Buch nicht gelesen habe, möchte ich nicht eine mir unbekannte Meinung legitimieren. ich freue mich, dass das Buch da ist und wir wie in einen Spiegel in dieses Ereignis reinschauen.

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  3. Kann ich nur unterschreiben. Ich habe auch keine Ahnung, ob das, was Herr S. schreibt, Sinn macht oder rassistische Gruetze ist. Aber die Art und Weise, wie Politiker dieses Buch instrumentalisieren, um sich selbst darzustellen, bringt mich mal wieder dazu, die deutschen Medien komplett zu meiden.

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  4. Anhand deines Blogbeitrages und der Reaktionen kann ich meine persönliche Meinung da durchaus positionieren:

    Wir brauchen uns nicht mit den Inhalten des Buches im Detail beschäftigen oder uns fragen, ob das mal gesagt werden musste. Die Antwort ist ganz klar: Nein. Mit Rassendeklarationen und genetischen Zuordnungen, mit faschistoiden Äusserungen und Einordnung ganzer Völker in “dumm”, “asozial” und “schlecht für uns” beschäftige ich mich nicht. Das ist indiskutabel und Herrn S. wird da definitiv zuviel Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit bereitet.

    Aber ja, wir können über Medien, ihren Umgang mit Inhalten, ihrer Wirkung auf Politik und Politiker, ihren Einfluss auf Meinungsbildung und wie wir mit Meinung und Haltung umgehen durchaus unterhalten. Das können wir gern diskutieren, das kann man als Spiegel einer Gesellschaft betrachten. Daraus kann jeder für sich persönlich eine Selbstreflektion generieren. Ganz sicher können wir über Grenzen, Toleranz und vor allem über Formen der Kommunikation reden.
    Ganz sicher nicht über Sarrazin und sein Geschwurbel.

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