Ich bin seit dreißig Monaten unterwegs. Mein Koffer fühlt sich immer schwerer an — nicht wegen Bücher und Souvenirs, sondern von Erinnerung, Einsicht und dem leisen Gewicht der Entscheidung. Die Reise, zu der ich im März 2023 ohne Plan aufgebrochen bin und die mich einst befreite, ruft nun nach einem Ende: nicht als Niederlage, sondern als Ruf nach Verwurzelung.
Doch wie hält man an, wenn man gelernt hat, weiterzugehen?
Ich lese und lerne, und die alten Geschichten geben mir verschiedene Antworten. In der griechischen Sage ist Odysseus stets unterwegs, doch das, wonach er sich sehnt, ist nicht nur ein Haus aus Stein: es ist das Zuhause seiner Wirkung, seiner Rolle, seiner Geschichte. Nostos — die Rückkehr — ist keine Rückfahrt; sie ist eine Wiedergeburt, ein Einordnen der Erzählung, die du geworden bist.
Dann gäbe es da noch die Selkies aus der keltischen Mythologie (danke an die wunderbare Sharon Blackie für das Buch “When Women Rose Rooted”!): Meereswesen, die als Robben leben und an Land menschlich werden, wenn sie ihre Robbenhaut ablegen. Findet die Selkie ihr Fell nicht mehr — oder wird es ihr entrissen — fühlt sie sich unwiderstehlich zur See hingezogen. Sie kennen ihr Zuhause. Sie spüren, wo es hingeht – und ich suche nach genau diesem mich rufenden Meer. Wo gehöre ich wirklich hin?
Paolo Coelhos Der Alchimist und Janoschs Oh, wie schön ist Panama! haben mir etwas Einfaches, und zugleich Schwieriges, gelehrt: Manchmal musst du weit reisen, um zu sehen, dass das, wonach du suchst, in dir oder nahe bei dir wartet. Doch das Sehen ändert nichts an der Arbeit, die nach dem Sehen folgt. Heimkommen heißt, die Welt mit neuen Augen zu betreten — und gleichzeitig zu erkennen, dass das Zuhause gebaut werden muss. Es ist kein Fundstück; es ist eine Arbeit.
Vom Liminal Space zur Landebahn
Meine Reise ging ein Stück weit durch das sogenannte Liminal Space: ein Zwischenreich, in dem ich meine Glaubenssätze ausgegraben, alte Verträge mit mir selbst geschlossen und das Manifest meiner Intuition gefunden habe. (Lies gern mehr in meinem Beitrag über 16 Monate als Nomadin.)
Die Rückkehr aus diesem Schwebezustand ist ruckig. Sie ist ein Aufprall an die Schwerkraft des Alltags: Verantwortung, Geld, Entscheidungen über Wohnorte, Beziehungen, Arbeit. Plötzlich sind die Kosten real — Miete, Versicherungen, die Infrastruktur eines festen Lebens. Plötzlich ist da die Frage: WARUM will ich wohnen, wo ich wohnen will? Was ist das Kriterium: Nähe zu Freunden, Familie, Sprache, dem Arbeitsnetzwerk — oder ein Ort, an dem ich mich wohlfühle und wirksam sein kann?
Die moderne Freiheit, von überall zu arbeiten, hat einen paradoxen Effekt: Sie dezentriert das Leben, macht es mobil — und damit verletzlich und zerbrechlich. Die Bindungen, die früher durch einen Arbeitsplatz entstanden, sind weitgehend weggebrochen. Man kann sich damit arrangieren — oder man spürt die Leere, die entsteht, wenn alles möglich ist und nichts mehr zwingt. Ich kann von überall auf der Welt arbeiten – eine Freiheit, die eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit lautstark macht.
Das ist eine schmerzliche Erkenntnis.
Drei Erkenntnisse, die ich heute mit dir teilen will
Als Fährtenleserin meiner eigenen Geschichte nehme ich drei Dinge mit, die nicht plakativ klingen sollen, sondern wie kleine Kerzen, die mir warm bleiben, wenn die Nacht kommt.
1. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Nicht alles lässt sich passend machen. Du kannst versuchen, ein Stück Puzzleteil in eine Form zu pressen, die nie dafür gedacht war — aber die Kanten bleiben sichtbar. Ein Zuhause ist kein Accessoire. Es ist ein Ort, an dem die Resonanz stimmt: mit den Jahreszeiten deines Herzens, mit deinem Rhythmus und mit den Menschen, die dich nähren. Wenn ein Ort sich nicht echt anfühlt, ist es nicht der richtige Boden, egal wie schön die Tapete ist.
2. Alles ist möglich.
Durch die Reisen habe ich gelernt, dass unsere Geschichten mehr Varianten kennen, als uns Schulen und Kulturen lehren. Wer sagt, ein Leben müsse wie mit einem deutschen Bauplan aussehen — fester Job, Haus, Kleingarten? Die Welt bietet Wohnmodelle wie Mosaiksteine: Mehrgenerationenhäuser, Genossenschaften, längerfristige Untermieten, internationale Dörfer, Co-Living, Rückzugsorte, Sabbaticals. Freundschaften entstehen anders, Arbeit verdient anders. Die Option ist da — und jeder kann sie sehen und den Mut haben, neue Muster zu leben.
3. Alles braucht seine Zeit.
Geduld ist heute eine revolutionäre Praxis. Manche Prozesse lassen sich nicht beschleunigen. Freundschaften brauchen Zeit zum Wachsen. Finanzielle Stabilität braucht Planung und beständige Schritte. Das Gras wächst nicht schneller, wenn du daran ziehst — und manches kann nur in einem bestimmten Lebensalter verstanden werden. Die Weisheit kommt nicht immer mit einer Karte; sie kommt mit dem gelebten Atem der Jahre.
Epilog
Ich schreibe diese Zeilen aus einer Zwischenzeit: die Reise hat mich gelehrt, dass Freiheit und Verwurzelung keine Feinde sind; sie sind zwei Seiten einer Münze. Die Kunst besteht darin, zu erkennen, welches Gesicht gerade Licht braucht. Und nach einer Balance zu suchen.
Vielleicht liegt mein Weg nicht darin, für immer anzukommen. Vielleicht fliege ich bald wieder auf und werde erneut eine andere Küste lieben. Oder vielleicht bin ich jetzt an einem Punkt, an dem ich den Boden finde, um dort etwas zu pflanzen. Einen Garten mit Gemüse und Heilkräutern. Im Moment möchte ich den Kräutergarten viel stärker als eine neue Küste.
Wie gern würde ich dir bald ein Bild von einem Regal zeigen, in dem meine Bücher stehen oder dich zu einem tee einladen – in meine Küche. Wo und wann das passiert, weiß ich nicht. Und das ist OK so.
Magst du deine Geschichten oder Fragen mit mir teilen, so bietet sich wie immer der Kommentarbereich dafür – oder du schreibst mir an meine E-Mail Adresse nadja at petranovskaja.com.

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