Auch wenn Du greinst,
Du Dich kasteist,
auch wenn Du haderst,
Du Dich zerreißt,
auch wenn Du verzweifelst, gehe ich neben Dir.Herbert Grönemeyer
*Persönliches Logbuch*
Es ist kurzsichtig anzunehmen, dass man »Lösungen« für Menschen hat, an deren Leben man nicht teilnimmt und deren Probleme man nicht kennt.
Dieser Artikel teilt meine persönliche Meinung im vollen Bewusstsein, dass keiner so leben muss, wie ich es tue.
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Die Stille, ein seltenes Gut
Der ethische Imperativ: Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen.
Es ist manchmal sehr laut. In unserer Welt, voller Nachrichten, Ereignisse, Veranstaltungen und Angebote, ist die Stille ein seltenes Gut. Bei all den Bemühungen, bewusster und achtsamer zu leben, kenne ich nur wenige Menschen, die eine Klarheit haben, eine Gelassenheit und Ruhe.
Ich kenne viele Menschen, die stets bemüht sind. Manche sind dabei fleissig, andere rastlos, dritte ratlos. Es macht auf mich den Eindruck, als ob wir dabei alle das Gleiche suchen: den Zugang zu der Stille, um uns dort auszuruhen.
Auch dafür gibt es viele Angebote. Schweigeseminare, Klosterwochen, Meditationen, Yoga und und und … Doch kehren wir nach diesen Angeboten meistens in die laute Welt zurück und werden meistens genau so wie früher. Und suchen wieder nach dem Weg und der Tür zu der Stille.
Außen und Innen
Die Umwelt, wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung.
Weil wir in einer Marktwirtschaft aufwuchsen, ist es für uns logisch, dass es für jedes Problem jedes Bedürfnis, ein Angebot und eine Lösung gibt. Es muss in unserem Verständnis in den meisten Fällen sogar eine Reihe von Angeboten geben, damit wir diese vergleichen und uns auf Basis unserer Kriterien entscheiden können.
Am Besten ist es dann, wenn das Angebot innerhalb von 24 Stunden an uns geliefert wird.
Oder sofort per Knopfdruck käuflich und verfügbar ist. Jemand nannte das “die digitale Ungeduld”.
Also verbringen wir Stunden und Stunden auf der Suche nach der Lösung für unser Problem. Die Suchmaschinen und Anbieter passen sich der Häufigkeit der gesuchten Begriffe an und so werden immer mehr Produkte geschaffen für das, was häufig gesucht wird. Nachfrage erzeugt das Angebot.
Mehr und mehr Angebote und Produkte erzeugen den Eindruck, dass etwas sehr populär bzw. notwendig ist. Es entstehen Trends, weil nur wenige in einer Gesellschaft in der Lage sind, etwas, was fast alle schon ausprobiert haben, nicht getan oder gekauft zu haben. Ein Besuch im angesagten Restaurant, eine Tupperdose, eine Yogamatte, ein Smartphone, ein Buch über Veganismus, eine CD von Helene Fischer. Ganz viele haben plötzlich eine Laktoseintoleranz und eine Gluten-Unverträglichkeit.
Was dabei passiert? Unser Selbst wird zum Pawlowschen Hund: drücke ich bei Bedarf den Knopf, kommt ein Stück Befriedigung (ein Gegenstand, ein Ereignis). Wir konditionieren uns selbst und erschaffen dabei ganze Wirtschaftszweige.
Und nur sehr wenige kommen auf die Idee, dass sie die Lösung, das Produkt Tag täglich bei sich tragen. In ihrem Inneren.
Nähe und Distanz
Ich arbeite viel mit Menschen. Früher viel es mir schwer, das Beobachten und das Bewerten von einander zu trennen. Mittlerweile bin ich richtig gut darin. Ich betrachte Menschen, stelle Fragen und beobachte. Ein Satz hat mir in dieser Hinsicht sehr geholfen:
Jeder hat Recht in seinem Angst- und Denksystem.
Jens Corssen
Ich beurteile also nicht mehr. Ich beobachte mich selbst. Was fällt mir auf? Was sehe ich? Warum sehen andere andere Dinge? Was ist mir wichtig?
Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind.
Ich sehe, was ich sehe – ich sehe nicht, was ist.
Und dadurch – allein durch die leichte Verschiebung dieser Linse, allein durch die Fokusveränderung, so vieles hat sich verändert! Es ist, als bekäme ich eine neue beste Freundin, und diese ist immer bei mir. Sie ist wie ich – Freigeist, innovativ und kreativ, manchmal eigensinnig und unvorhersehbar, manchmal sehr direkt und hart, manchmal absolut einfühlend und sehr mutig.
Und immer dann, wenn ich die Nähe dieser “Freundin” spüre, kullern Tränen. Es sind – wie ich sie nenne – “Halb und Halb Tränen”. Die eine Seite von mir freut sich, diese Nähe zu spüren, mich selbst nicht zu verlieren und offen und ehrlich genug zu sein, mich selbst an meine Fragen zu lassen. Die andere Hälfte ist traurig wegen all der Zeit, wo diese “Freundin” und ich voneinander getrennt waren.
Was Fortschritt ist
Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beeinflussen die Menschen.
Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir können zu Sternen fliegen und Krankheiten heilen. Wir können hochkomplexe Aufgaben lösen und ganze Systeme – politische, ökologische, wirtschaftliche – stabilisieren.
You can never kiss a system.
Was wir aber immer noch nicht gelernt haben, ist das Nutzen unseres eigenen Potenzials. Denn Systeme sind abstrakte Gebilde, bestehend aus sehr konkreten Einzelteilen – Personen, Persönlichkeiten. Leider sind wir in unserem Systembewusstsein meistens in der Außenwelt unterwegs und halten es – aus Angst? – für esoterisch, sich mit dem zu beschäftigen, was wir nicht sehen können: unserer Persönlichkeit, unserem Geist, unserer Seele.
Auch Ereignisse wie der Absturz der German Wings Maschine, das unfassbare München-Wochenende, steigende Statistiken für den Verkauf von Antidepressiva und Schlafmitteln, reichen wohl noch nicht, um einen Stein ins Rollen zu bringen. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass wir mehr sind, als Ansammlung von Organen und Flut von lauten Gedanken.
Wir sind alle anders. Wir sind alle gleich.
Fortschritt ist, wenn wir uns nicht nur die Zähne putzen, sondern mit gleicher Regelmäßigkeit etwas für den inneren Frieden tun. Wenn wir akzeptieren, dass jeder von uns ganz außergewöhnlich ist und daher persönliche Zuwendung braucht. Fortschritt ist, wenn wir einander bei der Frage: “Wie geht es dir?” die Wahrheit erzählen und zuhören.
Das wäre ein ganz großer Anfang.
Und immer, wenn es mir gelingt, mir selbst oder jemandem anders zuzuhören, bin ich gerührt und bewegt. Manchmal weine ich dann.
In Dankbarkeit.
Ob wir gehört werden, hängt auch davon ab, ob und wie wir uns zu Wort melden.
Ich habe mich gemeldet. Sollten wir uns begegnen, liegt es an dir, ob du dich meldest und wir uns auf einer ganz anderen Ebene unterhalten. Einer Ebene, wo wir beide Individuen sind und schillernde Persönlichkeiten. Wir können dann so vieles erleben – lachen, lernen, weinen, entdecken und und und …
Ich bin bereit!
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Nadja
PS: Mir ist eingefallen, dass eins meiner MutRezepte hier wunderbar passt:
Vielen Dank für diesen wunderschönen Artikel. Ich empfinde es auch so, dass Fortschritt dann geschieht, wenn wir ehrlich über uns selbst erzählen können und keine Angst vor den Reaktionen anderer haben müssen.
Liebe Petra, danke für deine Worte. Liebe Grüße, Nadja