Mein Bruder ist zu Besuch, und wir sprechen über seine Scheidung.

Wetten, du schaffst es nicht, 100 Schritte zu gehen und währenddessen 100 Gramm Schokolade zu essen? – fragt er plötzlich. Er weicht aus, lenkt vom Thema ab, er möchte nicht traurig sein, obwohl er doch gerade deswegen – nicht allein traurig sein – an meiner Seite sein wollte. Ich bin die große Schwester, und meine Scheidung liegt 10 Jahre zurück. Und dennoch: solche emotionalen Erlebnisse, diese Meilensteine des Lebens lassen sich nicht mit copy-paste lernen. Wie sagte Leo Tolstoi im berühmten ersten Satz aus Anna Karenina:

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.

Leo Tolstoi „Anna Karenina“

Und da sitzen wir beide in meiner Küche und trinken Tee, meine jüngste Nichte malt nebenan Blumen und glückliche Enten. Bin ich eine gute Schwester? Kann ich Trost geben und mit ein paar Fragen den Trauerprozess des verlorenen Liebe zu einem heilsamen Prozess machen? Natürlich male ich die Trauerkurve von Kübler-Ross, und natürlich finden wir die Stelle, in der mein Bruder gerade steckt und aus der er nicht weiter will. Wer will schon in das Tal der Tränen?

Und das mit der Schokolade essen und während dessen 100 Schritte machen, das klappt übrigens nicht. Es klingt viel leichter in der Theorie, so wie das Eheversprechen, dass die meisten von uns in ihrem Leben abgegeben haben.

Das Leben ist schwer, unbequem und dennoch schön. In einem Buch, das meine Eltern manchmal zitiert haben, wurde das Leben mit einem Zebra verglichen. Nach einem weißen Streifen kommt meistens ein schwarzer. Doch die viel optimistischere Gewissheit lautet: Nach einem schwarzen Streifen kommt stets ein weißer.

Auch der schlimmste Tag hat nur 24 Stunden.

Versprochen.