Hast du Zeit?
Viele beklagen sich, dass sie keine Zeit haben. Dass das Leben zu schnell ist. Dass alles zu viel ist.
In dem wunderbaren Buch “Hector und die Entdeckung der Zeit” fasst Fracoise Lelord einen Teil dieser Empfindung zusammen:
“… eine Sekunde Glück, eine Sekunde Unglück, eine Sekunde Langeweile – dauern immer unterschiedlich lange …”
Wenn unsere Zeit mit dem TUN gefüllt ist, vergeht sie rasend schnell. Aristoteles definierte die Zeit als “Maßzahl der Bewegung hinsichtlich des Davor und Danach”, und wer sich viel bewegt (viel tut), der füllt viel Zeit.
Wir vermissen die Zeit also recht schnell, wenn wir viel zu tun haben.
Ich gebe dir fünfzehn Minuten
Professor der Psychologie Timothy Wilson gab seinen Probanden 15 Minuten Zeit. In einem schlichten Versuchsraum durften zunächst Studenten für sechs bis 15 Minuten einfach nur sitzen und sich im Geist mit einem Thema ihrer Wahl beschäftigen. Aufstehen oder einschlafen durften sie nicht.
“Ich will einfach nur hier sitzen” – wer kennt diesen Loriot Kurzfilm?
Nun, die Studenten haben es nicht hingekriegt. Langweilige Minuten dauern eben unerträglich lang! (und hier ist das deutsche Wort “Langeweile” wirklich absolut zutreffend!!) Bereits nach wenigen Minuten fiel es den Probanden extrem schwer, sitzen zu bleiben und sie beschrieben das Experiment als unangenehm. Konnte der Raum dafür verantwortlich sein? Der Professor schickte die Studenten nach Hause und wiederholte das Experiment dort. Wieder einfach nur sitzen und den eigenen Gedanken zuhören. Hier empfanden die Probanden die verschriebene Ruhezeit als noch belastender.
Um auszuschließen, dass dieser Effekt etwas mit dem Beruf der Probanden und/oder mit dem Besitz von mobilen Endgeräten zu tun hatte, wiederholte Timothy Wilson die Studie mit Landwirten und Rentnern. Hier konnte die Gewohnheit, sich mit Facebook, E-Mail und Twitter zu beschäftigen, ausgeschlossen werden.
Doch im Unterschied zu der Loriot-Figur haben auch diese Probanden es nicht ertragen können, einfach nur so da zu sitzen. “Uns hat besonders überrascht, dass selbst alte Menschen ungern nur ihren Gedanken nachgingen”, sagt Wilson.
Weder das Alter, noch der Bildungsstand, noch die Umgebung schienen eine Rolle zu spielen. Da kam dem Professor eine Idee…
Lieber Stromschläge als still sein
In einer weiteren Versuchsreihe konnten die Probanden statt Nichtstun sich selbst einen milden, jedoch unangenehmen Elektroschock verpassen – wenn sie denn wollten. Vor dieser Versuchsreihe gaben die meisten Probanden an, dass sie lieber fünf Dollar bezahlen würden, als einen Stromschlag zu spüren.
Was geschah? 67% der Männer und 25% der Frauen fügten sich während des 15-minütigen Experiments freiwillig Schmerzen zu. Ein Proband soll 190 Mal auf den Schock-Knopf gedrückt haben…
Was denkst du darüber? Wie schätzt du deine eigene Fähigkeit ein, nur ein paar Minuten nichts zu tun?
Rumsein – eine schwere Aufgabe?
Die Schlussfolgerung des Forscherteams klingt plausibel: Der untrainierte Geist beschäftigt sich nicht gerne mit sich selbst. Logische Ableitung: Ich kann es trainieren, das stille mit mir sein? Nachschlagen und googeln bestätigt mich und entführt mich zu den Mönchen und Erfahrungen, die ich in meinem Alltag gar nicht brauche. Ich will weder etwas Übersinnliches erfahren, noch mich mit dem Universum vereinen (gut befreundet bin ich mit dem Universum schon!). Was ich will, sind ein paar Minuten Ruhe am Tag – und hier wird mir Meditation empfohlen.
Meditation ist nicht so meins. Jede Anleitung zu einer Meditation beginnt mit Anweisung, wie ich zu sitzen oder zu liegen habe. Was ich zu denken und was ich nicht zu denken habe. So viele Gebote und Verbote wecken mein rebellisches Ich, ich zappel und meditiere nicht. Ich bin einfach – und ertrage locker zehn Minuten in diesem inneren Dialog. Zugegeben, so etwas mache ich öfter, mein Geist scheint also zu den trainierten zu gehören. (Und wer sich an meinen Adventskalender erinnert, habe ich dort genau zu diesem Training aufgerufen – hier der Link.)
Meine Freundin Birgit Dierker hat meinem Leben einen neuen Begriff geschenkt: “RUMSEIN“. Während das Meditieren für mich nach einer Aufgabe klingt (und das Erfüllen dieser Aufgabe mir immer wieder schwer fällt), stellt das Rumsein keine Bedingungen. Ich muss dabei nicht auf etwas achten, ich darf sein wie ich will – und wenn ich in diesem Moment nur still da sitzen will, dann bin ich schon mitten drin, und die Freiheit, sich die Rahmenbedingungen, Dauer und Co. selbst auszusuchen, geben dem Ganzen aus meiner Sicht viel mehr Sinn.
Was passiert da eigentlich?
Was passiert da in mir, wenn ich nichts tue? Wenn ich in mir drin unterwegs bin? Wenn ich mich mit mir selbst – meinen Gedanken, meinen Empfindungen, meinen Gefühlen – beschäftige?
In den Trainings für Führungskräfte, die ich leite, gebe ich den Teilnehmern an einer Stelle bewusst viel mehr Zeit, als sie brauchen, um an ein paar Coachen-Fragen zu arbeiten. Das pure Beantworten der Fragen dauert in der Regel 5-10 Minuten. Den Rest der Zeit müssen meine Teilnehmer still da sitzen und in sich hinein schauend horchen, ob ihnen noch etwas in den Sinn kommt. Erstaunliche Erfahrung: Es gibt so was wie einen zweiten Atem im Gedankengang! Und der sieht so aus:
Zuerst schreiben die Teilnehmer fleissig auf, was sie denken. Dann sind die meisten fertig und warten, bis alle mit dem Schreiben fertig sind. Dann gucken alle auf die Uhr in der Hoffnung, die Übung ist durch.
Was passiert, wenn du dich mit dir beschäftigst? Wie viele Schichten und Gesichter des Ich begegnen dir?
Die schwerste Arbeit ist die Arbeit an sich selbst
Nein, die Übung ist noch nicht durch. Es sind noch reichlich Minuten da, und für diese gibt es eine klare Ansage: Schau in dich hinein und prüfe, ob da noch etwas ist. Atmen und Schnaufen füllt den Raum, bis plötzlich einer nach dem anderen den Stift greifen und noch etwas hinzufügen. In der späteren Auswertung der Übung berichten viele Teilnehmer, dass sie bei längerem Nachdenken auf etwas in ihrem Geist gestoßen sind und dieses zu ihren Antworten hinzu gefügt haben.
“Das Bewusstsein ist ein lautes Plappermaul”,- sagt Birgit Dierker. Recht hat sie. Um 15 Minuten still mit sich selbst auszuhalten, muss ich dieses Plappermaul bitten, etwas leiser zu sein. Statt Denken kommt Spüren, und das Spüren wohnt nicht im Kopf, sondern im Bauch. Und wenn du dich traust zu spüren, wirst du einer leisen Person begegnen, die in dir wohnt und nicht so oft zum Wort kommt – deiner Intuition.
Warum empfehle ich dir das? Weil ich dich und deine “Keine Zeit” Klagen ernst nehme. Weil meine Erfahrungen im Coaching zeigen, dass es möglich ist, mehr Zeit zum Durchatmen und Leben zu haben, ohne sämtliche Produktivitätstechniken dieser Welt zu beherrschen. Die Produktivitätstechniken helfen dir, mit dem Druck zurecht zu kommen, sicher. Was dann immer noch nicht bedient bleibt, sind deine eigenen Wünsche, Träume und Projekte. Diese kannst du nur erfüllen, wenn du dich traust, dir selbst zuzuhören.
Es gibt keine Befriedigung außerhalb von dir
In dem Buch “Hector und die Entdeckung der Zeit” gibt es einen Dialog, der mich immer lächeln macht. Hector – der Held im Buch – unterhält sich mit einem kleinen Jungen und fragt ihn:
“Und was würdest du dir heute von allen Dingen auf der Welt am meisten wünschen?”
Der kleine Junge entgegnet:
“Ich will sofort erwachsen sein!”
Und auf die Nachfrage, wieso, gibt er eine Antwort, die ich einfach liebe:
“Um selbst zu entscheiden!”
Welche Entscheidungen triffst du? Was leitet dich im Leben? Welchen Bedürfnissen folgst du? Mit anderen Worten: Womit füllst du deine Zeit?
Wenn du zu den Menschen gehörst, die manchmal sagen: “Ich habe keine Zeit”, dann sage ich “Sorry, Aufgabe nicht verstanden.” Zeit haben wir alle – und zwar alle die gleiche Menge. Womit du diese Zeit füllst, ist allein deine Entscheidung.
Mehr für dich selbst und dir mehr Zeit mit dir selbst
Mehr Geld, mehr Urlaub, mehr kaufen und besitzen… Unter dem Leistungsdruck der Gesellschaft erkennen immer mehr Menschen, dass das nicht unsere Lebensziele sind. Egal, wie laut die Werbung ist, es gibt immer mehr bewusstes Konsumieren. Egal, wie bekannt die Firmenlogos sind, es gibt immer mehr Aussteiger aus dem Karriere-Hamsterrad. Und neben all den extremen Entscheidungen gibt es eine sehr einfache: Die Entscheidung, mehr für dich selbst da zu sein, dich selbst mehr zu achten und dir mehr Zeit mit dir selbst zu gönnen.
Viel Spaß dabei!
Ich möchte auch mehr auf meine Bedürfnisse schauen. Deswegen habe ich für mich belastende Aufgaben abgegeben und tue mehr fü meine Freizeit.
liebe Maria, das ist super – so kommen wir nämlich schneller an unser Ziel. Gutes Gelingen! Nadja
Ich habe auch immer zu wenig Zeit und komme in den Stress. Aber nun habe ich Wege gefunden. Ich habe die Aufgaben abgegeben, die ich gut abgeben kann. Das ist zum Beispiel die Grabpflege meines Mannes. Ich lasse das Grad nun von einem Unternehmen pflegen.
Aufgaben abgeben, eine ganz wunderbare Möglichkeit, für dich zu sorgen. Danke für das Teilen!