Es gibt ein Thema, das immer wieder in mein Leben kommt, unabhängig von den bereits gemachten Erfahrungen –
“Was gibt es noch zu entdecken und was kann ich heute entdecken?”
Oft, wenn ich mit dieser Frage aufwache und den Tag umarme, fühlt es sich an, als wäre das mein erster Tag auf der Erde. Wenn ich zurück blicke, waren die meisten dieser Tage sehr erfolgreich, und ich habe etwas Neues gelernt. Ich glaube, dass diese Neugier ansteckend und das ist, was ich mit dir teilen will.
Ich wuchs in Russland auf, in einer großen Stadt voller Smog und Kommunismus. An meine Schulzeit erinnere ich mich ungern, außer daran, dass Deutsch mein Lieblingsfach war und etwas, das mich wirklich faszinierte, und so wurde ich mit der Zeit sehr gut darin. Irgendwann fragte ich mich – Was gibt es noch zu entdecken und wie kann ich meine Sprachkenntnisse nutzen?
Ich bewarb mich für ein Studienplatz in allen deutschsprachigen europäischen Ländern und habe fast 100 Bewerbungen verschickt. Das waren keine normalen Bewerbungen, die man planmäßig und disziliniert versendet. Das war ein Aufruf zum Kräfte messen mit dem Universum. Es konnte einfach nicht sein, dass mein Verlangen nach mehr und meine Fähigkeiten keine Anwendung finden würden.
Hamburger Universität nahm mich auf. Die ersten Wochen im neuen Leben war ich überwältigt, erleichtert, fassungslos. Ich beendete mein Psychologiestudium in der Regelstudienzeit als jüngste Diplom-Psychologin der Nachkriegszeit und ich war wirklich glücklich. Man bot mir an, an der Uni zu bleiben und einen Doktortitel zu machen, doch in meinem Bauch war nach vier Jahren Leben an der Uni längst wieder diese Frage: Wo geht es weiter? Was gibt es zu entdecken?
Was nun? Ich war so jung, ich würde keine Arbeit in Deutschland bekommen. Also kehrte ich nach Russland zurück. Mein Alter spielte keine Rolle hier und meine Erfahrungen im Ausland machte es mir leicht, die Karriereleiter zu erklimmen. Bald war ich verantwortlich für ein sehr ehrgeiziges Projekt und konnte den Kollegen mit dem in Deutschland gewonnenen Wissen wirklich behilflich sein.
Zurück in Deutschland, kehrte auch mein Satz zurück zu mir:
“Was gibt es noch zu entdecken und heute zu entdecken?”
Er war nicht wirklich weg die ganze Zeit, doch wenn ich viel zu tun hatte, kochte er auf kleiner Flamme im Hintergrund. Und in den Pausen des Tuns, da konnte ich die Frage laut und deutlich hören, und so stürzte ich mich in das, was man in Deutschland gerne als Karreire bezeichnet und lernte, wie das geht.
Der Job in der Beratung war gut, täglich lernte ich Neues und war mit tollen Kollegen unterwegs. Ich lebte aus dem Koffer. Und dieser Koffer war eine schöne Sache – wirklich. Nicht zu groß und nicht zu klein, passend für alle die Dinge, die eine Nadja braucht: Reisen, Herausforderungen, Chancen, kleine Abenteuer und get-aways, Beförderungen und Hotelzimmer, die nach Vanille riechen. In einem dieser Zimmer lag ich im Bett und wurde eines Morgens von einem vertrauten Gefühl getroffen. Es fühlte sich wie angeschwollen an, mir war heiß und auch etwas übel. Wieder diese Frage: Was gibt es NOCH zu entdecken? Und wieder das Vertraute Gefühl: Das kann es nicht gewesen sein, da muss es noch was anderes geben, wie komme ich dahin?
Ich vergrößerte meinen “Koffer”. Dort fand sich Platz für analoge Fotografie und Tango argentino. Der Koffer erweiterte sich wie von selbst, alles passte hinein und fiel an seinen Platz – natürlich und ordentlich, als ob es schon immmer da war. Ich wurde schwanger, der Koffer wurde ein Haus, ich pflanzte einen Garten so wie ich es von meinen Großeltern gelernt habe, und in diesem Garten wuchs alles, was in Norddeutschland wachsen kann. Abends las ich Bücher über Reformpädagogik, denn meine Kinder sollten es wirklich gut haben. Mein Satz, meine Frage machte ein Nickerchen in meinem Bauch und hielt still, auch in der zweiten Schwangerschaft, doch dann wurde meine Tochter ein halbes Jahre alt, und jetzt gab es wieder Platz für Fragen in meinem Bauch. Die Frage war so präsent wie noch nie: Familie, Haus, Karriere, war es das? Kann das alles gewesen sein?
Ich war 30.
Auf der Suche nach der Antwort wechselte ich den Beruf und wurde zur zertifizierten Projektmanagerin. Mein Koffer kam zu mir zurück, neue Länder und nach einem erneuten Jobwechsel auch eine Führungsverantwortung. Der Koffer wurde wieder größer und schwerer: Sitzungen, Entscheidungen, Verantwortung, Politik und endlose Arbeitsstunden. Und noch mehr Arbeit. Der Koffer war kaum noch zu heben. Bis mir klar wurde: Das war nicht mehr mein Koffer. Mein Job hat heimlich Dinge in den Koffer reingetan, die nicht meine waren, und das Schleppen dieser Dinge hat viel Kraft gekostet. Viel zu viel.
Hier nahm mein Leben eine große Wende – ich sagte “Goodbye” zu meinem großen und schweren Koffer. Ich beschloss, dass ich weniger fliegen und mehr zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit will, und mehr glückliche Menschen um mich herum erleben will, jeden Tag.
Ich kündigte meinen Job, um selbstständig zu arbeiten. Mein eigener Chef sein, Meister der Zeit. Ich war fest überzeugt, dass meine Träume wahr werden würden – und es klappte tatsächlich! Ich hatte Zeit für Sport und Kinder, Zeit für Bücher schreiben, ich entdeckte Yoga für mich und begann damit, ohne Einschränkungen zu leben, inspiriert durch viele verschiedene Orte – ganz ohne Koffer.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen
Dieser Satz begleitet mich schon eine Weile und er hilft mir jeden Tag vor dem Wecker aufzuwachen. Jeden Tag frage ich mich: Was ist mein Beitrag? Warum bin ich hier? Welche meiner einzigartigen Fähigkeiten braucht die Welt? (und mit der Welt meine ich Menschen!) Ja, das Finanzielle ist nicht immer einfach, doch was ist schon Geld, wenn man Freiheit haben kann und das eigene Lächeln jeden Tag im Spiegel? Und was ist schon Ruhm und Karriere, wenn man tagtäglich die Wirksamkeit des eigenen Tuns erleben darf und fröhliche Gesichter anderer Menschen sehen kann?
Die Welt ist im Umbruch
Die alten Kindergarten-Schule-Universität-Job-Rente-Tod Muster funktionieren nicht mehr. Auf dem Weg in das neue unbekannte Land spielt jeder von uns seine Rolle. Es gibt die Bewahrer und Hüter der Werte der Vergangenheit, es gibt die Pioniere und solche, die vorgehen. Mein Platz ist in der zweiten Reihe. Adaptieren, was die Pioniere entdecken und erschaffen und den nachfolgenden Menschen helfen, den Übergang in diese neue Welt zu erleichtern.
In der zweiten Reihe bin ich nah dran an dem, was bald da sein wird. Meine ewige Frage: Was gibt es noch zu entdecken? findet täglich Futter und freut sich, so viel Neues lernen zu können. Es sind noch 110 Länder zu bereisen, unzählige Menschen zu treffen und ein schier unerschöpfliches Potenzial an gemeinsamen Unternehmungen und Erlebnissen.
Was für eine phantastische Aussicht!
Ich bin dankbar für diesen Moment. Für die Möglichkeit, meine Gedanken frei schreiben zu können und mit dir zu teilen. Ich danke meinen Kindern für die Inspiration und Motivation, denn Kinder sind Zukunft, darum investiere ich so gern Liebe und Zeit in sie. Ich danke Hannah Bartels für die Koffer-Metapher, diese hat mir selbst mein Leben noch klarer gemacht. Ich danke Birgit Dierker für den Satz “Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden”, hängt an meinem Spiegel. Ich danke dem, der gesagt hat “Liebe will riskiert sein”. Nur Mut! Ich danke Manuel Dingemann für den Satz “Weniger arbeiten, weniger konsumieren und mehr Zeit zusammen verbringen” – ich richte mich danach. Wer weniger konsumiert, braucht auch nicht so viel Geld, wie einfach das doch sein kann! Ich danke den Menschen, die als Vorreiter und Pioniere unsere Zukunft gestalten. Unter anderem auch all denen, die Workshops und Konferenzen organisieren, in denen wir diese Zukunft anfassen und erahnen können, unter anderem sei da die baldige Konferenz für eine bessere Welt in Hamburg erwähnt. Ich danke dem Marcus Cerenak für den Schubs zu diesem Artikel. Ich danke meiner seit 22 Jahren Heimatstadt Hamburg für diesen wunderbaren Sommer. Und last but not least danke ich allen Menschen, die mir in den letzten zech Jahren des Bloggens so aufmerksam zugehört haben. Danke!
Es ist das Wissen, wofür man es tut, dass mich jeden Tag vor dem Wecker aufstehen läßt. Die Freude zu tun, wofür ich da bin. Die Freiheit, es aus eigenen Stücken zu machen, ohne Vertrag.
Ich schaffe es tatsächlich vor dem Wecker aufzuwachen…Aber schon drei Stunden davor :-) Deine Variante gefällt mir viel besser!!! Es hat mich sehr bewegt und gab mir einen SCHUBS
Danke dir für deine Rückmeldung, Viktoria!
Ich danke Dir für Deine Geschichte, ich finde sie wunderschööön.
danke René! freue mich, dass du mich hier besucht hast!
Danke für die schöne Geschichte. Ich lebe bereits seit vielen Jahren ohne Wecker. Nur wenn ich einen wichtigen Termin habe, nutze ich einen Wecker zur Sicherheit. Schöne Grüsse aus Osnabrück
Hallo Rainer, das mit den wichtigen Terminen ist in der Tat ein Argument. Es freut mich sehr zu lesen, dass es mehr Menschen gibt, die ohne Wecker aufstehen :-) Grüße, Nadja