Früher, als meine Oma noch lebte, lebte sie genau drei Tage Zugfahrt von Sankt Petersburg entfernt. Und Sankt Petersburg hieß früher Leningrad, und in Leningrad wuchs ich auf.
Da die Sommerferien in Russland genau drei Monate dauern (Juni, Juli und August), und kein Angestellter dieser Welt so viel Urlaub hat, verbrachten mein Bruder und ich viel Zeit bei unserer Oma. Die Zugfahrt – mit Umsteigen in Moskau – führte durch relativ flaches Land und über eine Menge Brücken. Auf den größeren Bahnhöfen warteten lokale „Babuschkas“ auf unseren Zug mit frisch gekochten warmen Pellkartoffeln und Piroschki, das sind gefüllte Teigtaschen mit Pilzen, Äpfeln, Kohl, Quark, was immer die Fantasie und das Können der jeweiligen Frau zuließ. Wir haben uns auf jede Station gefreut – zum einen, weil wir dann ein wenig laufen konnten, zum anderen, weil es uns so gut geschmeckt hat, was wir von den Babuschkas gekauft haben.
Meine Oma hatte sich im Badezimmer eine Dunkelkammer eingerichtet. Das bedeutet, ein Gitter auf die Badewanne gestellt und dort auf gefühlt zwei Quadratmetern all die Fotos gemacht, die ich von meiner Kindheit habe. Hätte meine Oma nicht die Ausdauer, die Geduld und die Hartnäckigkeit gehabt, wüßte ich vermutlich nicht, wie ich als kleines Kind ausgesehen habe.
Danke, Oma!
Im Garten von meinem Opa wuchsen all die Obst- und Gemüse-Produkte, die wir heute in der Gemüseabteilung kaufen. Bis auf die ganz exotischen, die eh kein Mensch braucht. So lernte ich, dass Erdbeeren angehäuft werden wollen und wie man den Kartoffelkäfer bekämpft. Ich weiß auch, dass kein Biogemüse dieser Welt an die duftende und mundwassertreibende Qualität des selbstgezüchteten und selbstgeernteten Gemüses ran kommt. Die Äpfel haben wir dann nach der Ernte in Scheiben geschnitten und auf selbst gebastelten Gittern auf dem Balkon getrocknet. Im Winter gab es daraus Kompott, die Süße und der Duft des Südens im dunklen verregneten Leningrad. Niemand vermisste Cola.
Nach ein paar Jahren hat sich etwas verändert, und wir konnten plötzlich mit einem Flugzeug zu Oma. Das waren damals noch Flugzeuge, in denen Hutablagen aus Holz waren und wo es kein Bordservice gab. Jede Flugzeugreise endete mit einer vollen Kotztüte, doch als Belohnung nach den überstandenen Strapazen gab es einen riesigen roten Apfel von Oma und eine voll abenteuerliche Fahrt mit Opa’s Volga. Abenteuerlich allein deswegen, weil wir als Stadtkinder sonst nie mit einem Auto fuhren, denn früher waren Autos nur etwas für Bonzen oder Menschen mit wichtigen Posten in den sogenannten Strukturen, und mein Opa war zwar kein Bonze, aber Abteilungsleiter in einer Fabrik, und so bekam er ein Auto zugeteilt. Dieses Auto, das herrlich nach Benzin roch und so wunderbar brummte, wurde nur an besonderen Tagen aus einer Garage abgeholt, und diese Rituale machten den Besuch bei Opa und Oma für mich zu einem Urlaub im Zauberland.
Abends haben wir dann alle zusammen frisch geerntete Kartoffeln mit Butter gegessen, dazu gab es fleischige Tomaten mit Schmand und Salz, und ich kann mich in meinem Leben nur noch an ein paar andere Momente erinnern, in denen ich das Essen so sehr genossen habe, wie diese einfachen Mahlzeiten aus dem selbst geernteten und mit dem Volga-Auto transportierten Gemüse.
Nach dem Essen mussten wir Kinder natürlich früh schlafen, was wir aber nicht taten, denn es gab bei Oma Bücher, die wir noch nicht gelesen hatten, und wozu gibt es Taschenlampen, wenn nicht für diese heimlichen Lesestunden?
In den Monaten zwischen den Sommerferien schrieben meine Oma und ich uns Briefe. Das waren meistens mehrere Seiten Text, alles mit einem Kugelschreiber auf dem karierten Schulheftpapier. Bestimmt streckte ich dabei meine Zunge raus, den ich schrieb meiner Oma sehr gern, und es war keine Last, ihr alles zu erzählen, was ich erlebte. Meine Briefe von damals kann ich leider nicht mehr lesen, aber ich trage bei jedem Umzug die Briefe meiner Oma mit mir in einem Schuhkarton. Viele Seiten Text, frei von Sensationen und Schlagzeilen, beruhigend wie das Schnurren einer Katze.
Warum schreiben wir uns heute so nicht mehr?
Früher gab es kein Internet. Kein Skype. Kein Facebook. Entschleunigung, Achtsamkeit, Genussfähigkeit – all das, was wir heute vermissen und wieder lernen, war früher inklusive. Wir hatten für alles Zeit.
- Was mache ich aus diesen schönen Erinnerungen?
- Wie gehe ich im Hier-und-Jetzt mit Sehnsucht nach Simplifizierung und Klarheit des Lebens um?
- Was kann ich meinen Kindern bieten, damit sie eines Tages auch so begeistert von ihrer Kindheit berichten und die Tage bewusst erleben – als eine Zeit voller Geräusche, Farben, Gerüche, Geschmäcke und Berührungen und nicht nur als einen endlich abgelaufenen Wartebalken im Monitor?
Was denkst du?
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Toll, danke, dass du das erzählt hast. Meine Kindheit bietet auch solche Quellen. Ich bin ganz in der Nähe der niederländischen Grenze aufgewachsen. Meine Oma lebte in Hamburg, ab und zu fuhren wir dort hin. Mit einem Käfer als ich klein war, später mit einem Ford Taunus. Die Autobahnen waren noch nicht alle da und so fuhren wir immer in Rade von der A1 und durchs Alte Land, an großen Höfen und Deichen vorbei nach Hamburg-Finkenwerder. Im meiner Kindheit gab es noch keine Köhlbrandbrücke und keinen neuen Elbtunnel. Ich möchte gerne nochmal durch den alten Elbtunnel gehen. Wir fuhren mit einem “Fahrstuhl” hinunter und wieder rauf. Manchmal gings mit einem Dampfer von den Landungsbrücken in Finkenwerder rüber nach St.Pauli – ein großes Erlebnis für ein kleines Mädchen aus dem Emsland.
Früher gab es keine Freibäder in unserer driekten Gegend. Da, wo ich als Kind im weißen Sand gespielt und im Kanal gebadet habe, ist heute alles zugewachsen und direkt daneben fährt heute der Transrapid. Meine Eltern fuhren mit uns zum Baden und sie nahmen Getränke und Rohkost mit, ich mochte schon immer gerne Möhren, oder wie sie bei uns hießen: Wurzeln. Und natürlich Erdbeeren, auch alles aus dem eigenen Garten – so lecker schmeckt es heute nur, wenn man mal in eigenen Gärten naschen kann. Es wurde richtig Gemüse angebaut und eingekocht und eingefroren. Und die Kartoffelschalen brachten wir immer zu “Oma Potts”, die war in unseren Augen uralt (zwischen 70 und 80), und hatte solche O-Beine, dass die mittleren Ferkel aus ihrem Stall locker dadurch rennen konnten. Also gab es auch immer einen Blick auf die Schweine beim Kartoffelschale wegbringen.
Als ich fünf war, haben meine Eltern das Haus so stark umgebaut, dass wir während der Bauzeit ausziehen mussten. Heute unvorstellbar, zogen wir in die Räume von ehemaligem Stall und Garage. Wir hatten dann die Küche im früheren Statt und das Schlafzimmer für alle in der Garage. Draußen am Außenwasserhahn wurde eine Toilette angebaut und mit Dachplatten ein Häuschen gebaut. Samstags war Badetag und unsere ganze Familie ging zu Tante Erika und Onkel Willem: dort gingen wir in die Badewanne. Auf dem Hof hatten wir immer einen ordentlichen Sandhaufen zum Spielen, im Herbst das Laub eines Wallnussbaumes auch als Haufen zum Spielen.
In der Nachbarschaft waren Autos da, aber niemand hatte zwei Autos und es gab Familien, die hatten keines. Die Mütter waren zuhause, es sei denn, wie bei uns, es musste mit Putzen dazu verdient werden. Aber man war mehr zuhause und nicht soviel unterwegs. Das Leben war beschaulicher.
Ich hatte für ein aufgenommenes Kind Verantwortung und habe es schon groß. Mein Geschenk an ihn war eine Kindheit mit jeden Mittag zuhause Mittagessen bekommen, nachmittags im Garten, auf der Straße oder in der Siedlung spielen. Um die Siedlung herum war ein Kanal, da haben die Kinder sommers gebadet und natürlich kamen die Hunde mit in den Kanal und im Winter wurde auf dem Eis gelaufen. Dann gab es noch einen Rodelberg, der wurde genutzt, so oft es ging. Im Gartenkamin durfe Feuer gemacht werden, die Kinder der ganzen Siedlung durfen kommen. es wurde mit Holz und Steinen gebaut, mit Gocart und Häuschen gespielt und “gekokelt” und auch mal ein Würstchen gegrillt.
Mir fällt noch was ein: wir hatten zwei “Kostgänger” im Haus, als ich klein war. Damals schien eine Strecke von knapp 30km noch sehr weit zu sein. Und so quartierte man junge Männer ein, die unter der Woche bei uns wohnten und aßen. Einer davon ist mir ein sehr wichtiger Begleiter im Leben geworden. Das ist noch eine eigene Geschichte. Aber die einen fuhren nur am Wochenende die 30 km nach Hause und die anderen besserten mit Untermietern ihr Geld auf.
Ja, die besonderen Mensche sind es und der Genuss einfachster Sachen. Das sind Quellen für immer.
Ich hatte auch eine wundervolle Großmutter. Sie lebte in der DDR- ich im Westen. Wir sahen und zweimal im Jahr in den Ferien. Es waren tolle Ferien – abenteuerliche Zugfahrten – Leben auf dem Land – und eben eine tolle Oma. Sie ist bis heute mein Vorbild. So gelassen – jederzeit zum Zuhören bereit – tolerant – fröhlich – herzlich – ach ja!
Ich habe auch Briefe mit Ihr gewechselt. Ihre Schrift war noch das alte Sütterlin – und ich konnte (und kann) das lesen.
Meine Oma war klasse – auch ohne Dunkelkammer ;-))
Dafür gab es dort einen Hühnerstall in dem ich die Eier suchen durfte und immer wieder Nachwuchs bei den Stallkaninchen. Die habe ich soooo gerne auf den Arm genommen. Und genauso gerne am Sonntag auf
meinem Teller gehabt. Das gehörte halt zusammen.
Ohne meine Oma wäre mein Leben wirklich viel ärmer gewesen.
Und richtige Briefe gibt’s bei mir auch noch – immer zu Weihnachten. Mit viel Liebe – für alle guten Freunde – einzeln geschrieben – nichtig dem PC.
Danke Nadja für die tollen Erinnerungen!!
danke, eure Stories sind wunderbar :) jetzt nur noch sicherstellen, dass die nächste Generation auch so etwas einfaches ubd einfach Tolles erlebt!
Hallo Nadja,
was die Zugfahrt in Russland anbetrifft habe ich auch so meine Erinnerungen, ich bin mehrfach mit dem Zug von Moskau in das Permer Gebiet gefahren. Das war schon eine Geschichte für sich.
Wenn ich überlege, weshalb wir heute keine Briefe mehr schreiben glaube ich, das wir auch einfach zu viele Möglichkeiten haben. Ob Internet, Telefon, Ablenkung durch Fernsehen oder was auch immer. Oft nehme ich mir vor, am Abend noch etwas zu lesen, vorher nur mal schnell mit dem Tablet die Mails checken, da kommt dann die eine oder andere Ablenkung dazu und schon ist wieder viel mehr Zeit als geplant vergangen.
Vor noch nicht allzulanger Zeit hatten wir nunmal in erster Linie die Möglichkeit, Briefe zu schreiben, deshalb haben wir es einfach auch getan.
Ja, wir haben nicht zu wenig Zeit, wir haben heute einfach zu viele Möglichkeiten :-)